Christkind, Weihnachtsmann und Co:
Freitag, der 23.12.2022:
Dieses Jahr, Sie sind sich da ganz sicher, werden weder der Weihnachtsmann noch das Christkind notfallmäßig zu Heiligabend in Ihrer Praxis als Patienten vorstellig werden. Vorsorglich haben Sie die beiden bereits in der vergangenen Woche nochmals osteopathisch behandelt und beide waren ganz fit.
Außerdem fällt Weihnachten dieses Mal auf einen Samstag und heute um 17:00 Uhr kommt Ihr letzter Patient.
Danach beginnt Ihr ersehnter Weihnachtsurlaub und vom 7.-9. Januar 2023 nehmen Sie an einem Seminar mit Jean-Pierre Barral teil. Erst danach beginnt dann im neuen Jahr wieder Ihr Arbeitsalltag.

Es ist jetzt bereits 5 Minuten nach 17:00 Uhr und Ihr letzter Patient ist noch nicht eingetroffen.
Es ist auch sein erster Termin bei Ihnen. Sie schauen nochmals im Plan nach: Ja richtig, Juri Umarov (der Name ist redaktionell frei erfunden) ist für 17:00 Uhr eingeplant und hat auch gestern noch telefonisch seinen Termin bestätigt.
In diesem Moment vernehmen Sie vor Ihrer Praxis ein lautes Motorengeräusch und glauben Ihren Augen nicht zu trauen, als Sie aus dem Fenster im Wartezimmer einen Blick auf die Straße werfen. Ein 40-zig Tonner LKW zwängt sich in die Parklücke vor der Praxis. Auf der Bordwand des Aufliegers prangt ein großer geschwungener blauer Pfeil. Bewundernd beobachten sie das Manöver des LKW-Fahrers. Das Motorengeräusch erstirbt und der Fahrer klettert aus dem Führerhaus und eilt auf die Eingangstüre zu Ihrer Praxis zu. Es scheint Herr Umarov zu sein.
Kurz darauf steht ein mittelgroßer hagerer Mann, Sie schätzen ihn auf Mitte vierzig, vor Ihnen an der Rezeption und entschuldigt sich in gebrochenem Deutsch vielmals für die Verspätung, die so erklärt er Ihnen, durch eine unplanmäßige Verzögerung beim Löschen seiner Ladung am hiesigen Standort eines großen Online-Versandhändlers bedingt sei. Nun ja, was sind schon fünf Minuten denken Sie sich und bitten den Patienten in Ihr Sprechzimmer.
Als der Patient in dem gepolsterten Sessel vor Ihrem Schreibtisch Platz genommen hat beginnen Sie routiniert mit der anamnetischen Befragung des Patienten. Dabei ist Ihnen natürlich auch wichtig zu erfahren, aus welchem genauen Grund Herr Umarov sie heute aufgesucht hat.
Bedingt durch die sprachliche Barriere ist es für Sie nicht ganz einfach allen seinen Ausführungen zu folgen, aber unter dem Strich glauben Sie folgendes verstanden zu haben:
Herr Umarov ist 47 Jahre alt, gebürtig kommt er aus einem kleinen Dorf in Usbekistan. Dort leben auch seine Frau und seine zwei Kinder. Er selbst ist seit 4 Jahren bei einem Transportunternehmen mit Sitz im Baltikum angestellt.
Dieses arbeitet als Subunternehmer für den Online-Versandhändler.
Seit Mitte Juni dieses Jahres leidet Herr Umarov unter erheblicher Müdigkeit und unter Konzentrationsstörungen sowie teils heftigen Kopfschmerzen. Oft sei er, so erzählt er Ihnen, kaum noch in der Lage die erlaubten Lenkzeiten seines LWK zu absolvieren und das ganz ohne am Fahrtenschreiber des LKW gedreht zu haben. Immer wieder plage ihn auch der starke Hustenreiz, vor allem wenn er bei Nacht auf der schmalen Pritsche seiner unbeheizten Fahrerkabine versuche, wie vorgeschrieben, einige Stunden zu schlafen. Wenn er dann aus einem kurzen und meist unruhigen Schlaf erwacht, plagen ihn heftige Rückenschmerzen und alle seine Muskeln und Gelenke fühlen sich schmerzhaft und steif an.
Die Beschwerden seien, so berichtet der Patient, erstmals nach einer SARS-CoV2 Infektion Ende April Anfang Mai aufgetreten. Obwohl der Patient zu diesem Zeitpunkt als voll immunisiert galt, war die Infektion so heftig, dass er 3 Tage lang den LKW nicht fahren konnte und sich in der Fahrerkabine aufhalten musste. Dieser Umstand führte zu einem erheblichen Disput mit dem Logistikkoordinator der Transportfirma für die Herr Umarov arbeitet und letztlich sogar zur Kürzung seines Lohns.

Als sich die Atemnot, der Hustenreiz und die Gelenkschmerzen auch 6 Wochen nach der überstandenen Erkrankung nicht besserten, suchte er, während er auf das Löschen seiner Ladung warten musste, einen Arzt auf. Dieser erklärte ihm die Beschwerden seinen typisch für Long Covid und verwies auf die Möglichkeit einer Auffrischungsimpfung.
Diese könne eventuell die Symptome abmildern. Herr Umarov willigte ein, hatte jedoch kurze Zeit später das Gefühl, dass die Beschwerden durch diese Maßnahme eher zu und nicht wie erwartet abgenommen hatten. Sie erinnern sich daran, über diese Therapieoption in einer S1-Leitlinie – oder war es doch eine S3-Leitlinie? gelesen zu haben, können sich jedoch an den Empfehlungsgrad für diese Therapiemaßnahme nicht mehr genau erinnern.
Im Rahmen der sich anschließenden körperlichen Untersuchung des Patienten ergeben sich für Sie, abgesehen von einer Einschränkung der thorakalen Beweglichkeit, keine signifikanten Befunde. Lediglich die Prüfung der respiratorischen Sinusarhythmie vermittelt Ihnen den Eindruck einer bestehenden autonomen Regulationsstörung.
Etwas unschlüssig, hinsichtlich der unspektakulären Befundsituation, aus der Sie nicht wirklich einen kausal funktionellen Zusammenhang zu den geschilderten Beschwerden ableiten können, beginnen Sie die osteopathische Behandlung von Herrn Umarov und nehmen sich vor, an dem Seminar „Das autonome Nervensystem und die neuroendokrine Regulation“ vom 28.-30.09.2023 teilzunehmen, da Sie sich davon einen vertieften Einblick in die Diagnostik und Behandlung dieser Steuerungsebene versprechen.
Noch während Sie mit dem Patienten spezielle Atemtechniken wie die umgekehrte Intervallatmung, die Wechselatmung mit nasaler Inspiration und PEP-Exspiration zur Hemmung der postviralen refraktären Hustenattacken einüben, gibt das Handy von Herrn Umarov plötzlich Alarm.

Er entschuldigt sich bei Ihnen umständlich für die Unterbrechung und bittet darum kurz einen Blick auf das Display werfen zu dürfen. Danach erklärt er ihnen scheinbar erleichtert, dass er auf seinem Smartphone eine App des Online-Versandhändler, dessen Waren er mit seinem LKW quer durch ganz Europa transportiert, installiert habe. Diese informiere ihn darüber, wann neue Fracht für seinen LKW zur Beladung bereitsteht.
Erfreut zeigt er Ihnen, dass er heute um 20:45 Uhr an Rampe 24 laden kann. Damit wird für Ihn das Weihnachtsfest in der Kabine seines LKW nicht ganz so eintönig, wenngleich er auch diese Weihnachten wieder nicht bei seiner Familie sein wird. Ja, so ergänzt er, es ist eben ein Hundeleben: Du schläfst in einer Hütte, schiffst vor den Baum und hörst auf dein Herrchen“, aber er komme damit klar denn obwohl er sehr viel weniger als den gesetzlichen Mindestlohn verdiene, so sei es immer noch deutlich mehr als er zuhause in Usbekistan verdienen könne.
Während der Patient seine Rechnung bei Ihnen bar bezahlt, überlegen Sie kurz, ob Sie den Begriff Philanthrop vielleicht doch falsch verstanden haben, oder ob die Begriffsdefinition bei Wikipedia vielleicht doch nicht so ganz zutreffend gewesen ist - aber nein, der Begründer des Online-Versandhändlers wurde in dem Beitrag, den Sie erst kürzlich in einem Qualitätsnachrichtenmagazin gelesen haben, definitiv als „Menschenfreund“ beschrieben - komisch?
Diese Geschichte ist natürlich frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufälliger Natur! Die Angaben zur aktuellen Situation der Logistikbranche wurden dem Artikel „Die Geisterfahrer“ im Dossier der Wochenzeitschrift DIE ZEIT, Ausgabe Nr. 52 vom 15. Dezember 2022 entnommen.